Lesestoff

Lebensstil
Ding meines Lebens

Dieses Buch war mir seinerzeit so wichtig, dass ich meine Adresse und sogar die Telefonnummer hinschrieb – damit man es mir zurückgeben könnte, falls ich es verloren hätte. Hab‘ ich zum Glück aber nicht. Das Buch steht seit 34 Jahren in meinem Bücherregal und erinnert mich dort an einen bedeutsamen Moment in meinem Leben.

7. Klasse, Oberstufe, die späten 1980er Jahre: Im Deutschunterricht teilte die Professorin die Referate zu. Mein Buch: Mein Name sei Gantenbein von Max Frisch. Ich weiß noch, dass mich der Konjunktiv im Titel neugierig machte. In der Schulbibliothek zog ich das giftgrüne Buch aus dem Regal.

Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte seiner Erfahrung, steht auf den ersten Seiten. Die Zeilen sind unterstrichen, sie erschienen mir bedeutsam. Verstanden habe ich den Roman trotzdem nicht. Ich las ihn 1-mal, 2-mal, 3-mal, meine Nervosität stieg. Schule interessierte mich nicht, meine Noten waren grottenschlecht. Wenn ich nun auch noch in meinem besten Fach absacke, ging mir durch den Kopf, ist die Matura vielleicht wirklich in Gefahr. Undenkbar, denn ich wollte dringend raus aus unserem Dorf und zum Studieren in die Stadt.

Ich las den Gantenbein zum 4. Mal, verstand ihn wieder nicht. Also ging ich in die Bibliothek: zum Literaturlexikon, das in rote Ringmappen gebunden war. Bei „Frisch“ schlug ich auf, ackerte mich durch, ließ mir den Inhalt des Romans durch den Kopf gehen. Aha. Ein Mann erfindet nach einer gescheiterten Liebesbeziehung verschiedene Identitäten. Er probiert Geschichten wie Kleider an. Aha. Die klassische Erzählweise ist aufgehoben, stattdessen Montagetechnik. Aha. Aha. Aha.

Noch heute sehe ich mich in der Bibliothek: großflächig Spannteppich, riesige Fenster in einen kleinen, lauschigen, grünen Innenhof, wohltuende Stille und Leere, genug Platz zum Denken, nur die Aufsichtsperson und ich, der Gantenbein und das rote Literaturlexikon. Ich schlug alle mir fremden Begriffe nach, las wieder, forschte und erkannte, dass ein Buch aus verschiedenen Ebenen besteht. Dieser Roman war etwas ganz anderes als die Identifikationsliteratur, die ich bis dahin gelesen hatte.

Die Vorbereitung des Referats wurde ein Spiel, in das ich immer tiefer eintauchte. Bald erkannte ich, dass diese Welt meine Welt werden sollte. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich den Gantenbein 7-mal gelesen. Wie das Referat gelaufen ist, weiß ich nicht mehr. Doch in diesen Tagen entschied ich, dass ich Germanistik studieren werde. Jahre später erzählte mir meine Deutschprofessorin, dass sie mit der Auswahl dieses giftgrünen Buches für mein Referat genau das im Plan hatte.

Das Buch Ding meines Lebens von Lebensstil
Das Ding meines Lebens ist ein Schlüsselroman im wahrsten Wortsinn: 7-mal las ich den Gantenbein, weil ich den Roman nicht verstand. Doch ich empfand die Recherche als Spiel, das mir großen Spaß machte. Danach entschied ich, dass ich Germanistik studieren werde.