Lesestoff
Lesestoff
«Ich brauche Schönheit. Den Trost von Schönheit. Wenn ich Schönheit sehe, höre, lese, spüre, dann glaube ich an Möglichkeiten, an Wege, Räume, Purzelbäume. Schönheit kann Gefühle befreien, uns den Mut geben, Neues zu wagen, oder die Kraft, Unveränderbares zu ertragen.» So schreibt Gabriele von Arnim in ihrem Buch, das mich inspiriert und mir ein wichtiger Wegbegleiter geworden ist.
Gabriele von Arnim stammt aus einer großbürgerlichen Familie, in der das wichtigste Gebot lautete: bloß nichts fühlen. Der gestärkte Hemdkragen des Vaters blieb sogar abends geschlossen, die Mutter wirkte in ihrer Schönheit neben ihm verloren. In dieser Nestlosigkeit wächst sie auf und friert ihre Gefühle bereits als junge Frau ein. Sie heiratet sehr früh einen Mann, der meint, sie dürfe studieren, müsse sich aber trotzdem hübsch zurechtmachen. Sie entflieht der Ehe, promoviert in Soziologie und Politikwissenschaften und baut sich ein Leben als Journalistin und Schriftstellerin auf. Sie heiratet ein zweites Mal, erlebt dreißig Jahre lang eine große und gleichberechtige Liebe und als ihr Mann krank wird, pflegt sie ihn zehn Jahre lang. Nach seinem Tod braucht sie sehr lange, um ihr zerfleddertes Ich einzusammeln und wieder zu spüren, dass sie einen eigenen Atem, einen eigenen Körper, ein eigenes Leben hat. Doch wenn sie Schönheit begegnet, fühlt sie Trost.
Das Fühlen zu erkunden ist ein Wagnis.
So macht sich Gabriele von Arnim auf die Suche nach Schönheit und findet sie überall – im kleinen Entzücken und großen Gebrause, wie sie schreibt: beim Blick aus dem Fenster in den aufgewühlten Herbsthimmel und eine schimmernde Regenpfütze, in Gemälden, Büchern, Dingen, beim Zuhören, Staunen und Erkennen, in Begegnungen, Melodien, Baumkronen, im Traum, oder wenn sich das Wasser eines Sees beim Schwimmen sanft um ihren Körper legt. Sie beginnt, sich wieder selbst zu spüren und erkennt, dass Schönheit ein Weckruf ist und innere Grenzen sprengen kann: zwischen Ewigkeitsträumen und der Endlichkeitsgewissheit. Denn nur wer auch die eigene Vergänglichkeit begreift, kann von Schönheit getröstet werden, so schreibt Gabriele von Arnim.
Ein bewegendes, zärtliches, versöhnliches, demütiges, empfindsames, großes Buch, das ermutigt: zu fühlen, sich selbst zu erkennen und das Leben mit offenem Herzen jeden Tag aufs Neue zu wagen.
Im Rowohlt Verlag um € 22,70
