Schöne Dinge

Ding meines Lebens

Die Dose stand immer auf der Ablage, hinter dem Esstisch in der Küche meiner Eltern. Beim Essen habe ich oft zu ihr hingeschaut – vor allem wenn ich sehr lange sitzen bleiben musste, weil ich nicht aufgegessen hatte. Vielleicht könnte die Dose in einem unbeobachteten Moment ihren kleinen Deckel heben und all das verschwinden lassen, was mein Mund nicht nehmen wollte?

Die Dose ist so klein, dass sie in die geschlossene Faust eines jungen Menschen passt und genauso trug ich sie eines Tages fort. Meine Eltern haben nie danach gefragt und so weiß ich gar nicht, ob sie in all den Jahren jemandem gefehlt hat. Auch woher die Dose stammt und wie sie in unsere Familie kam, ist mir unbekannt.

Wenn man den Deckel der Dose aufmacht, gibt sie ein leises Schnappgeräusch von sich – als würde sie aufatmen. Manchmal mache ich die Dose mehrmals hintereinander auf und zu, um ihr beim Atmen zuzuhören. Im Inneren hat die Dose drei runde Einkerbungen: auf der Unterseite des Deckels und am Boden. Irgendjemand hat in ihr vielleicht diese drei Zeichen hinterlassen, deren Botschaft ich nicht entschlüsseln kann. Oder irgendwann hat die Dose etwas geborgen, das sie verletzt hat. Ich habe in ihr nie etwas aufbewahrt, weil ich diesen leeren Raum der Möglichkeiten mag.

Die Dose rührt etwas in mir an. Vielleicht sind es die vier verschiedenfarbigen Blumen, deren Mosaikteilchen man mit den Fingerkuppen so schön nachfahren kann? Die acht Ecken, die so gut in der Hand liegen? Die satte Patina? Oder doch das leise Schnappgeräusch beim Atmen? Die Dose ist ein Ding, das zu meinem Leben gehört. Wenn es brennt, würde ich sie mitnehmen.

Das Ding meines Lebens
Ding meines Lebens: kleine Dose unbekannter Herkunft